Zum Gedenken an Sr. Dorothee Reiss SAC
Am 18. April 2020 nahm Gott unsere Sr. Dorothee Reiss zu sich. Sie verstarb in den Abendstunden in unserem Haus Felizitas in Limburg.
Dorothea kam am 21. Januar 1928 als jüngstes Kind des Landwirts Josef Reiss und seiner Frau Anna, geborene Lindenblatt, in Damerau in Ostpreußen zu Welt. Von ihrer Familie wurde sie Dora oder Dorle genannt.
Sie wuchs mit ihrer Schwester Anna und ihren Brüdern Josef, Paul und Bruno auf und besuchte die Volksschule in Damerau. Nach ihrer Schulentlassung absolvierte sie eine hauswirt-schaftliche Ausbildung im landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern.
Dorotheas ältester Bruder Josef wurde zum Kriegsdienst eingezogen und fiel 1943 in Russland. Das Ende des Krieges – für viele Menschen der Zeitpunkt der Befreiung, markierte im Leben der Familie Reiss einen schweren Einschnitt. Als Soldaten der russischen Armee im März 1945 nach Damerau kamen, wurde die Familie auseinandergerissen.
Der Vater und die Söhne wurden verschleppt, ohne Angabe, wohin sie gebracht würden. Am Karfreitag des Jahres 1945 kamen Soldaten und bedrohten die Mutter und die beiden Töchter Anna und Dorothea. Sie mussten fürchten, erschossen zu werden und Dorothea sah eine Pistole auf sich gerichtet und wusste, dass der Befehl erteilt worden war, sie zu erschießen. Der Soldat schoss in die Zimmerdecke, wie sie glaubte, mit Absicht. In Aufzeichnungen, die Sr. Dorothee später verfasste, schrieb sie: "Sicher war er ein guter Mensch."
Dorothea und ihre Schwester Anna wurden in Gefangenschaft genommen und nach etlichen Stationen kamen sie in einem Lager in Karpinsk im Ural an. Bei einem Zwischenaufenthalt hatten Dorothea und Anna ihren Vater gesehen, durften aber nicht mit ihm sprechen. Nach zwölf Wochen schwerster Arbeit im Kohlebergbau oder in Betrieben wurden die beiden Schwestern getrennt. Dorothea wurde in ein anderes Lager gebracht und Anna musste zurückbleiben, weil sie krank war. In ihren Aufzeichnungen schrieb Sr. Dorothee: "Mir wurde das Letzte genommen, das ich noch hatte, mein Liebstes. Mir fiel der Abschied doppelt schwer, weil ich meine Schwester krank zurücklassen musste." Sie sollten sich nie wiedersehen.
Dorothea wurde in ein Lager in Norilsk überführt. Die Arbeitsbedingungen waren sehr hart, aber hier erlebte sie, was sie für immer prägen sollte. Sie notierte später: "Gott war mir bisher nirgends so nahe als in dieser so wunderschönen Natur und Weite des Landes dort. Tage, an denen es nicht Nacht wurde, Sand, der wie Feuer brennen konnte, klare Himmel und Sonne, wie sie nur in den Sommertagen in dieser Gegend scheinen kann. Sibirien ist für mich immer das Land des großen Leids und Schicksals geblieben – aber auch des großen Erlebens meiner damals jungen Seele."
Ende 1945 wurde Dorothea aus dem Lager entlassen und kehrte siebzehnjährig nach Damerau zurück, fand dort aber niemand mehr von ihrer Familie vor – ihre Heimat gab es nicht mehr. Es folgte eine Zeit in Durchgangslagern. Den Weihnachtsgottesdienst 1945 feierte sie in einer Lagerhalle in Frankfurt an der Oder. Dort erfüllte sie die Gewissheit: "Ich werde Pallottinerin." Sie kannte die Gemeinschaft, denn zwei Schwestern ihrer Mutter, Sr. Laetitia und Sr. Lidwigis, waren Pallottinerinnen.
Im Februar 1946 fand Dorothea Aufnahme in einer provisorischen Einrichtung für Evakuierte in Eisleben, die von Pallottinerinnen geleitet wurde. Mit ihnen kam sie dann nach Limburg und arbeitete im Hilfskrankenhaus mit. Im September 1946 wurde Dorothea ins Postulat aufgenommen und am 15. August 1947 wurde Sr. M. Sigfrida eingekleidet. Später kehrte Sr. Dorothee zu ihrem Taufnamen mit leicht veränderter Schreibweise zurück.
Nach ihrer Profess absolvierte sie die Ausbildung zur Hauswirtschaftsleiterin und Lehrerin an Hauswirtschaftlichen Berufsschulen. Über lange Jahre hatte Sr. Dorothee die Leitung der Hauswirtschaft am Vinzenz Pallotti Hospital in Bensberg inne und ab 1986 war sie Hausoberin der Kommunität in Bensberg.
Nach ihrem Umzug nach Limburg war Sr. Dorothee ab 1993 Hausoberin der Limburger Kommunität. Im August 2013 entschied sie sich, in unser Haus Felizitas zu ziehen.
Erst spät erzählte Sr. Dorothee ihren Mitschwestern von ihren Erfahrungen in der Gefangen-schaft. Antwortbriefe vom Suchdienst des Roten Kreuzes belegen, dass sie erst um die Jahrtausendwende die Gewissheit erhielt, dass ihr Bruder Paul im Februar und ihr Vater im Juni 1945 in Russland verstorben sind. Auch ihre Mutter und ihre Schwester haben die Zeit der Verschleppung nicht überlebt. Zu ihrem einzig überlebenden Bruder Bruno und dessen Familie sowie zu Verwandten mütterlicherseits hatte sie zeitlebens engen Kontakt.
Sr. Dorothee war das innere geistliche Leben sehr wichtig. Gerne las sie neue theologische Publikationen. Ein Text, der ihr besonders lieb war, ist das "Te Deum" der Schriftstellerin Gertrud von le Fort. Der Hymnus beginnt mit den Worten "Großer Gott meines Lebens" und dies sah Sr. Dorothee als Überschrift über ihren Lebensweg.
Sie erlebte ihren Herrn als den "Ich bin der Ich-bin-da". Und wir sind dankbar, dass sie den mitgehenden, liebenden Gott in unserer Gemeinschaft bezeugt hat. Nicht Bitterkeit über Erlebtes prägte sie, sondern das Wissen um die Nähe Gottes auch in Zeiten tiefster Ängste.
Wir sind sicher, dass sie nun das Meer der Herrlichkeit Gottes in all seiner Kraft erfährt. Möge ihre Fähigkeit, das eigene Leben in Freud und Leid ganz dem Herrn zu übergeben, auch für uns eine Schule des Vertrauens sein.
Sr. Astrid Meinert SAC
Provinzoberin